aha-backstage #51: Internationaler Tag der Menschen mit Behinderungen

Am 3. Dezember wird der internationale Tag der Menschen mit Behinderungen gefeiert. Wir haben anlässlich dazu zwei Gäste eingeladen. Unser erster Gast ist Lena Estermann, sie wird uns in dieser Folge von der Seite der betroffenen erzählen, weil sie selber auf einen Rollstuhl angewiesen ist. Unser zweiter Gast ist Kristina Sprenger. Sie arbeitet beim liechtensteinischen Behindertenverband im Büro für Gleichstellung für Menschen mit Behinderungen.

Verschriftlichung des Podcast’s:

Jingle

Amy Kalberer:
Hey, herzlich willkommen zu einer neuen Folge unseres backstage-Podcast! Ich bin Amy Kalberer und ich freue mich riesig auf diese besondere Ausgabe. Anlässlich des Internationalen Tages der Menschen mit Behinderungen haben wir heute zwei Gäste bei uns. Zuerst einmal begrüße ich Lena Estermann, die selbst auf einen Rollstuhl angewiesen ist. Lena ist 27 Jahre alt und wird uns ihre Perspektive teilen. Hallo Lena, wie geht es dir?

Lena Estermann:
Hey, danke, mir geht’s gut. Freue mich, hier zu sein.

Amy Kalberer:
Super, wir freuen uns auch, dass du hier bist! Unser zweiter Gast ist Kristina Sprenger, sie arbeitet beim Liechtensteinischen Behindertenverband und ist für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen verantwortlich. Hallo Kristina, wie geht es dir?

Kristina Sprenger:
Hallo! Mir geht es auch gut, danke.

Amy Kalberer:
Der Internationale Tag der Menschen mit Behinderungen ist am 3. Dezember. Was ist das Hauptziel dieses Tages?

Kristina Sprenger:
Der Internationale Tag der Menschen mit Behinderungen ist ein weltweiter Tag, an dem wir nicht nur feiern, sondern auch darauf aufmerksam machen, dass Menschen mit Behinderungen verschiedene Bedürfnisse und Wünsche haben. Das Ziel ist, ihre Sichtbarkeit im Alltag zu erhöhen. An diesem Tag gibt es verschiedene Aktionen, um darauf aufmerksam zu machen.

Amy Kalberer:
Welche speziellen Veranstaltungen habt ihr für den 3. Dezember in Liechtenstein geplant?

Kristina Sprenger:
Wir haben verschiedene Dinge geplant. Eine coole Aktion, die wir zum zweiten Mal durchführen, ist die „Gritibänz-Aktion“. Verschiedene Bäckereien in Liechtenstein backen Gritibänz, die auf besondere Weise gestaltet sind, zum Beispiel als Rollstuhlfahrer oder mit anderen Behinderungen. In diesem Jahr haben auch Schulen und Jugendtreffs die Möglichkeit, Gritibänz zu backen, um den Menschen diesen Tag näherzubringen. Es wird Zeitungsartikel geben, und wir haben eine Doppelseite in der „Liewo“. Im Radio, genauer gesagt im Radio L, wird es verschiedene Beiträge geben. Wir haben versucht, den Internationalen Tag der Menschen mit Behinderungen breit zu streuen, damit hoffentlich alle in Liechtenstein davon erfahren.

Amy Kalberer:
Wenn wir an Menschen mit Behinderungen denken, denken wir oft zuerst an sichtbare Behinderungen. Aber das ist nur ein kleiner Teil, oder?

Kristina Sprenger:
Genau, tatsächlich sind etwa 90% der Behinderungen nicht sichtbar. Es gibt viele Menschen mit unsichtbaren Beeinträchtigungen. Wir haben heute Lena hier, die eine sichtbare Behinderung hat, nämlich einen Rollstuhl. Aber es gibt viele Menschen mit Beeinträchtigungen, bei denen man sie nicht auf den ersten Blick erkennt, vielleicht auch nicht auf den zweiten oder dritten Blick.

Amy Kalberer:
Vielen Dank für die Erklärung. Lena, ist für dich das Wort „behindert“ negativ, oder gibt es bessere Begriffe?

Lena Estermann:
Ja, für mich hat das Wort „behindert“ einen negativen Klang. Es wird im Alltag oft leichtfertig verwendet, und man hört Sätze wie „Boah, du bist ja behindert.“ Vielleicht sagt man das nicht zu mir, aber es wird untereinander gesagt, und das finde ich nicht angemessen. Ein besseres Wort, das ich vorschlagen könnte, wäre „beeinträchtigt.“

Amy Kalberer:
Danke. Hattest du deinen Rollstuhl schon immer?

Lena Estermann:
Ja, ich wurde mit Spina bifida, umgangssprachlich „offener Rücken,“ geboren und habe den Rollstuhl, so lange ich denken kann.

Amy Kalberer:
Kannst du uns etwas über deinen Alltag im Rollstuhl erzählen? Wo benötigst du Unterstützung?

Lena Estermann:
Ich lebe derzeit noch zu Hause bei meinem Papa. Wir haben eine Trennwand einbauen lassen, weil ich alleine wohnen möchte. Täglich benötige ich keine Unterstützung, aber ich bin auf den Fahrdienst vom LBV angewiesen, um zur Schule nach Götzis zu gelangen.

Amy Kalberer:
In Bezug auf den Alltag, wie ist das Einkaufen für dich? Gibt es Bereiche, in denen du Unterstützung benötigst?

Lena Estermann:
Grundsätzlich kann ich selbstständig einkaufen gehen, aber es gibt Situationen, in denen ich um Hilfe bitten muss, wenn bestimmte Artikel in hohen Regalen oder in niedrigen Regalen liegen, die für mich schwer zugänglich sind.

Amy Kalberer:
Fühlst du dich unwohl, um Hilfe zu bitten?

Lena Estermann:
Nein, besonders beim Einkaufen empfinde ich es nicht als unangenehm. Es wäre seltsam, zu verlangen, dass alles auf meiner Höhe sein muss. Ich denke, es ist ein guter Mittelweg, wie es in den Geschäften bisher gelöst ist, und es ist in Ordnung, um Hilfe zu bitten.

Amy Kalberer:
Danke für deine Offenheit. Eine allgemeine Frage an Kristina: Wie behindertenfreundlich ist Liechtenstein?

Kristina Sprenger:
Ich finde es schwierig, das als Person ohne Behinderung zu beurteilen, aber meiner Meinung nach gibt es noch viel Raum für Verbesserungen.

Amy Kalberer:
Lena, wie siehst du das?

Lena Estermann:
Ich sehe das genauso wie Kristina. Wir haben sicherlich noch einen langen Weg vor uns, bis wir sagen können, dass wir eine inklusive Gesellschaft sind.

Amy Kalberer:
Wo gibt es deiner Meinung nach Diskriminierung und Verbesserungspotenzial? Kristina, vielleicht kannst du uns zuerst erzählen.

Kristina Sprenger:
Ein großes Thema, das uns immer wieder beschäftigt, ist der Arbeitsmarkt. Dort haben wir definitiv noch große Herausforderungen. Es geht auch um Vorurteile und die Frage, wie Unternehmen Menschen mit Behinderungen besser integrieren können. Wir müssen das Bewusstsein schärfen, dass Menschen mit Behinderungen genauso kompetent und fähig sind wie andere auch.

Amy Kalberer:
Ja, wo erlebst du Diskriminierung, Lena?

Lena Estermann:
Diskriminierung erlebe ich, wenn es z.B. darum geht, dass ich am Abend in den Ausgang gehen will und gewisse Bars oder Restaurants nicht rollstuhlgängig sind. Es fängt damit an, dass ich nicht einmal hineinkomme. Also es geht nicht einmal darum: „Haben sie ein Rollstuhl-WC oder haben sie keines?“ sondern „Wie komme ich überhaupt hinein?“ Und was sicher auch noch ein Punkt ist, sind die öffentlichen Busse. Es gibt einfach eine Rampe, die jedes Mal von jemandem, den ich frage oder vom Busfahrer herausgenommen werden muss, damit ich hineinkomme. Das ist, finde ich, in anderen Ländern besser gelöst.

Amy Kalberer:
Ja, das hat alles mit der Infrastruktur von Liechtenstein zu tun, aber Diskriminierung kann auch vom Verhalten der Menschen kommen. Was sind so Dinge, wo du sagst, dass Menschen viel falsch machen oder was kann ein Mensch ohne Beeinträchtigung tun, um dir das Leben zu erleichtern?

Lena Estermann:
Es gibt, wie Kristina vorhin gesagt hat, Hürden im beruflichen Alltag. Also, ich habe nicht die gleichen Chancen wie ein Mensch ohne Beeinträchtigung. Es gibt sicher auch Situationen, wo ich mir denke, ich treffe jetzt auf eine Person, die etwas von mir annimmt, wo er aber gar nicht erfragt, und diese Annahmen geben der Person ein Bild von mir, das vielleicht gar nicht mit dem übereinstimmt, wer ich wirklich bin. Und diese Annahmen tragen sich weiter, das ist dann wie ein Kreislauf, dass es immer mehr Menschen gibt, die etwas annehmen, wo vielleicht nicht ganz stimmt oder fälschlich dargestellt wird.

Amy Kalberer:
Hast du vielleicht ein konkretes Beispiel, was dir mal passiert ist?

Lena Estermann:
Ja, mir ist schon oft passiert, dass ich im öffentlichen Rahmen nicht als erwachsene Person wahrgenommen werde, sondern dass man mich grundsätzlich mit „Du“ anspricht. Das passiert mir nicht nur hier in Liechtenstein bei unserer Du-Kultur, sondern auch in der Schweiz und in Österreich oder dass man gar nicht mit mir redet, sondern nur mit der Person, die mich gerade begleitet, und mich komplett übersieht. Das ist mir schon in einem Kleiderladen passiert. Dort denke ich mir dann: „Es geht hier gerade um meine Kleider oder um meine Sachen oder um meine Bedürfnisse, warum redest du nicht mit mir?“ Wenn man die Person dann darauf anspricht, reagieren die Personen ganz verscheucht oder eingeschüchtert und wissen nicht, was sie jetzt sagen sollen, weil sie kapieren: „Jetzt habe ich einen Fehler gemacht.“ Es geht mir nicht darum, jeder Person zu sagen: „Das hast du falsch gemacht.“ sondern etwas bei der Person auszulösen, dass sie umdenkt, dass sie lernt, mit diesen Dingen anders umzugehen oder sie anders benennt.

Amy Kalberer:
Ich nehme dich als eine sehr offene Person wahr. Bist du jemand, ich denke das ist von Mensch zu Mensch immer wieder anders, aber wäre es dir eigentlich lieber, wenn man dich direkt etwas fragt, bevor man etwas annimmt und dann in dem Fall vielleicht sogar einen Fehler macht? Also einfach offen und ehrlich fragen, wie man am besten in dieser Situation mit dir umgehen soll?

Lena Estermann:
Ja, mir wäre es viel lieber, wenn man zu mir käme und sagen würde: „Hey, ich habe eine Frage, darf ich dir diese stellen?“ Ich bin wirklich eine offene Person, ich erzähle ziemlich viel über mich selbst, muss ich auch, weil wenn die Fragen dann losgehen, werden sie sehr schnell sehr persönlich. Aber mir ist es lieber, wenn man mich direkt fragt, als etwas anzunehmen und dann weiterzugehen. Und ich finde es auch völlig normal, dass man, wenn man sich kennenlernt, Dinge austauscht, aber auf eine respektvolle Art und Weise.

Amy Kalberer:
Was für Erfahrungen hast du gemacht, Kristina, mit Menschen, die in solchen Situationen unsicher waren und nicht wussten, wie sie mit den Betroffenen umgehen sollten?

Kristina Sprenger:
Es ist heute einfach noch so, dass sehr viele Vorurteile oder Unwissenheit existieren und dass dann Menschen unsicher werden oder vielleicht auch wegschauen, um sich nicht damit beschäftigen zu müssen. Es gibt gewisse Barrieren, wie schon angesprochen, in der Infrastruktur und im Arbeitsbereich, aber ich denke, gewisse Barrieren sind auch in unseren Köpfen. Wir nehmen sie im Alltag oft nicht wahr und sehen sie nicht. Deshalb wünschen wir uns von den Menschen einfach Offenheit. Lena hat schon gesagt: auf jemanden zugehen und fragen, und wenn dann mal ein Nein kommt, ist das auch in Ordnung, aber einfach annehmen: „Ich weiß schon alles“ und auch offen zugeben: „Ich bin mir gerade unglaublich unsicher oder ich weiß gerade nicht, wie ich mich verhalten soll.“ Das ist aus unserer Sicht oder das, was betroffene Personen sagen, immer noch die bessere Lösung, als die Straßenseite zu wechseln oder über jemanden hinwegzugehen. Also auch hier, offen sein und vielleicht auch zugeben, dass man gerade nicht weiß, wie man sich verhalten soll.

Amy Kalberer:
Lena, darf ich dich fragen, was war die blödste Situation, die du je erlebt hast?

Lena Estermann:
Ich kann das nicht auf eine prägnante Situation beschränken, aber ich kann sagen, dass es für mich oft schwierig ist, wenn Personen Annahmen über mich treffen und dann hingehen und sagen: „Du kannst das doch sowieso nicht.“ oder „Das ist jetzt sicher noch schwierig für dich.“ Obwohl es eigentlich gar nicht der Fall ist. Oder dass man mich, wenn man mich irgendwo sieht, zu mir herkommt und zu mir sagt, wenn ich gerade beruflich unterwegs bin, nicht als Betreuungsperson erkennt, sondern einfach annimmt: „Jo okay, jetzt bist du gerade in deiner kleinen Gruppe mit anderen Menschen mit Beeinträchtigung, und ihr macht gerade einen Ausflug.“ Aber dass ich wirklich als Betreuungsperson erkennbar bin, ist für viele anscheinend nicht sichtbar.

Amy Kalberer:
Was machst du genau beruflich?

Lena Estermann:
Ich bin in einer Institution in der Schweiz und mache dort die Ausbildung zur Behindertenbetreuung, in Götzis, in der Kathi-Lampert-Schule.

Amy Kalberer:
Im Gegensatz zu der anderen Frage, was ist die schönste Situation, die du in deinem Leben erleben durftest?

Lena Estermann:
Die schönsten Situationen sind sicher die, in denen ich sehr viel Selbstständigkeit erleben konnte. Wenn ich in einer Umgebung bin, in der ich komplett akzeptiert werde, egal ob ich gerade im Rollstuhl sitze oder auf einem Stuhl und der Rollstuhl neben mir. Und wenn nicht über mich geurteilt wird, nur weil ich im Rollstuhl sitze. Das sind die schönsten Momente.

Amy Kalberer:
Und dafür bräuchte es ja eigentlich, dass es immer so sein kann, die Akzeptanz von den Menschen um dich herum und natürlich die Infrastruktur, die da mitspielt. Das wären ja nicht so riesige Punkte zu ändern, dass du dich immer 100% wohl fühlst, wo du gerade bist.

Lena Estermann:
Nein, eigentlich scheint es für mich nicht so schwierig zu sein, aber trotzdem sehen wir z.B. wieder auf das Liechtenstein bezogen, dass die Hürden trotzdem noch riesig sind und dass es mit einem simplen Bewerbungsgespräch anfängt. Wenn ich hineinschreibe, in der Bewerbung, dass ich im Rollstuhl bin, dann heißt es gleich: „Okay, da müssen wir entweder noch einmal darüber reden.“ oder „Geht gar nicht.“ Und diese Absagen tun weh, weil ich auch das Gefühl habe, dass viele aus Ungewissheit mir dann absagen, weil sie nicht wissen, wie sie damit umgehen sollen oder was sie machen können , dass es doch funktioniert.

Amy Kalberer:
Kristina, was sind deine Erfahrungen in Sachen Berufswelt? Finden Betroffene eine Arbeit, die zu ihren Bedürfnissen passt, oder ist das eher schwierig?

Kristina Sprenger:
Ich würde sagen, dass es eher schwierig ist. Die Berufswelt ist sicher noch nicht inklusiv gestaltet. Es fängt damit an, ob man überhaupt eine Ausbildung machen kann, wenn man eine Beeinträchtigung hat. Wenn man das schafft und es nimmt dich jemand auf, geht es nachher weiter. Findet man überhaupt eine Arbeitsstelle im 1. Arbeitsmarkt? Was ist, wenn ich nicht 100% arbeiten kann? Was ist, wenn ich ganz kleine Anpassungen brauche? Wer lässt sich darauf ein? Wir haben die Erfahrung gemacht, dass es sehr schwierig ist für Menschen mit Beeinträchtigung wirklich etwas zu finden, und dass die Bereitschaft in gewissen Bereichen schon ein wenig da ist, aber wir wünschen uns da auf jeden Fall noch viel mehr und auch dort wieder, wenn ich mich wiederhole, dass man auf die Personen zugeht und fragt: „Was brauchst du überhaupt?“ Das eine Person in einem Rollstuhl, wenn man zwei verschiedene Personen hat, die brauchen nicht das gleiche. Also ja, eine Rampe wird es wahrscheinlich brauchen, dass man in das Gebäude hineinkommt, aber wie sie ihre Arbeit ausführen können, dort sind wir wieder sehr verschieden. Dass man einfach den Dialog sucht und nicht von vorne herein, im besten Fall in der Bewerbung, drinsteht, dass ich eine Beeinträchtigung habe oder spezielle Bedürfnisse mitbringe. Dass man wirklich offen darauf zugeht und herausfindet, ob es möglich ist. Und wir haben die Erfahrung gemacht, dass oft ganz kleine Änderungen, die von außen gesehen sehr gut möglich sind.

Amy Kalberer:
Lena, wie war dein Weg zu dem Beruf, den du jetzt machst?

Lena Estermann:
Angefangen hat das Ganze mit einer Bürolehre. Ich habe eine EBA-Lehre gemacht, weil damals meine Eltern und der damalige Berufsberater gesagt haben: „Das ist doch eine gute Lösung für dich.“ Und hier fängt es auch schon an. Es gibt so viele Menschen, die ich kenne, die im Rollstuhl sitzen und fast gezwungen werden, einen Bürojob zu erlernen, weil es einfach ist und weil es nicht viel Aufwand erfordert. Ich habe auch von vielen Menschen gehört, dass ein Mensch im Rollstuhl einfach in einen Bürojob gehört, weil was soll er sonst machen? Ich habe mich dann nach meiner Ausbildung dazu entschieden zu sagen: „Nein, das mache ich nicht mehr. Das ist nicht meine Welt.“ Ich bin dann mit einigen Umwegen und einer langen Durststrecke von Stellensuche und Absagen zu der Institution in der Schweiz gekommen, die gesagt hat, dass sie mir die Chance geben, den Beruf zu erlernen, den ich gerade mache.

Amy Kalberer:
Darf ich fragen, wie viele Bewerbungen hast du geschrieben, und hast du in deinen Bewerbungen erwähnt, dass du im Rollstuhl sitzt? Und wie ist es dann verlaufen?

Lena Estermann:
Also ja, ich habe sehr, sehr viele Bewerbungen geschrieben, und ich habe, glaube ich, in meinem Leben drei Bewerbungsgespräche geführt.


Amy Kalberer:
Wie viele Bewerbungen hast du eigentlich geschrieben? Und hast du, wie Kristina vorhin erwähnt hat, in deinen Bewerbungen angegeben, dass du im Rollstuhl sitzt? Und wie ist das dann verlaufen?

Lena Estermann:
Ja, ich habe tatsächlich sehr viele Bewerbungen geschrieben, und ich hatte in meinem Leben, glaube ich, nur drei Bewerbungsgespräche. Die Chance, zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen zu werden, war viel geringer als die Anzahl der Bewerbungen, die ich verschickt habe. Oft erhielt ich Absagen mit Aussagen wie: „Wir sind nicht barrierefrei.“ Dann frage ich mich, besonders im Bereich der Betreuungsberufe, warum sie eine Einrichtung betreiben, in der anzunehmen ist, dass Menschen, wenn sie älter werden, auf einen Rollstuhl oder zumindest auf eine Gehhilfe angewiesen sein könnten, aber die Infrastruktur nicht barrierefrei ist.

Amy Kalberer:
Richtig, es betrifft ja nicht nur Menschen im Rollstuhl, sondern auch ältere Personen oder solche, die aufgrund eines Unfalls vorübergehend Krücken benutzen müssen. Das ist eine wichtige Perspektive.

Lena Estermann:
Genau, es betrifft definitiv nicht nur Rollstuhlfahrer.

Amy Kalberer:
Nachdem ich dich im Gespräch kennengelernt habe, erscheinst du mir als eine sehr mutige Person. Außerdem habe ich gehört, dass du ein großes Projekt in der Zukunft planst. Möchtest du uns mehr darüber erzählen?

Lena Estermann:
Ja, ich plane, eine Zeit im Ausland zu verbringen. Ich weiß noch nicht genau, wie lange diese sein wird oder wohin es gehen wird. Ich denke daran, nach Spanien zu gehen. Im Moment versuche ich, eine passende Option zu finden, bei der ich mich alleine zurechtfinden kann. Es ist wichtig, dass alles gut vorbereitet ist.

Amy Kalberer:
Das klingt aufregend! Warum hast du dich für Spanien entschieden, und wie kamst du auf die Idee, ins Ausland zu gehen?

Lena Estermann:
Ich habe lange Zeit in meiner Ausbildung verbracht und dabei viel gesehen und erlebt, was mich herausgefordert hat. Jetzt brauche ich eine Veränderung. Einiges von dem, was in der Welt oder in der Gesellschaft in Liechtenstein passiert, passt nicht zu meinen Vorstellungen. Ich brauche diese räumliche Distanz, um mich neu zu orientieren und herauszufinden, wie es weitergehen soll. Die Idee kam von mir, und als ich hierher kam und sagte, dass ich ins Ausland gehen möchte, haben sie die Weichen gestellt.

Amy Kalberer:
Hast du vor diesem Schritt Angst oder Respekt? Lena Estermann: Ich würde es nicht unbedingt Angst nennen, aber Respekt ist auf jeden Fall dabei. Es gibt viele Fragen, die in meinem Kopf herumschwirren, wie „Schaffe ich das?“ oder „Welche Herausforderungen könnten auf mich zukommen?“ und auch die Frage, ob ich jemanden finden kann, der mich für eine gewisse Zeit aufnimmt. Diese Fragen stellen sich sowohl im Liechtenstein als auch in der Schweiz. Im Ausland, besonders zwischen Liechtenstein und Spanien, ist die Distanz noch größer, was es komplexer macht. Man denkt darüber nach, wartet auf eine Antwort und hofft, dass alles klappt. Es erfordert Geduld.

Amy Kalberer:
Wir gehen jetzt einfach davon aus, dass alles gut läuft und du die Gelegenheit bekommst, ins Ausland zu gehen. Nachdem deine Zeit im Ausland abgeschlossen ist, gibt es dann noch einen Traum, den du unbedingt erfüllen möchtest?

Lena Estermann:
Mein großer Traum wäre, dass der Begriff „Inklusion“ oder Projekte zur Förderung von Inklusion nicht mehr notwendig sind. Gerade im Bezug auf Menschen mit Behinderungen finde ich, dass wir weg von dem Gedanken kommen sollten, dass man jemanden inkludieren muss. Stattdessen sollte es ganz normal sein, dass Menschen mit Behinderungen Teil der Gesellschaft sind. Wir sollten nicht mehr als Randgruppe oder Sondergruppe wahrgenommen werden, sondern als selbstverständlicher Teil der Gesellschaft. Ich kenne viele Menschen, die einen harten Weg hatten, bis sie in der Gesellschaft akzeptiert wurden. Es gibt viele Momente, in denen man an sich selbst zweifelt.

Amy Kalberer:
Kristina, was sind deine Wünsche für die Zukunft aller Menschen mit Behinderungen in Liechtenstein?

Kristina Sprenger:
Ich glaube, Lena hat das bereits sehr gut ausgedrückt. Mein Wunsch ist, dass alle Menschen, unabhängig von ihrem Alter, ihrem sozialen Status und ihrer finanziellen Situation, sich ihrer Verantwortung bewusst werden und ihren Beitrag leisten. Es beginnt damit, Menschen mit Behinderungen offen anzusprechen und die eigenen Barrieren und Ängste anzuerkennen und auszusprechen. Unser großer Wunsch ist, dass der Tag der Menschen mit Behinderungen zwar weiterhin existiert, aber nicht mehr so hart dafür gekämpft werden muss, dass diese Menschen gesehen werden. Stattdessen sollten wir auf das Jahr zurückblicken und sehen, was alles gut funktioniert hat, ohne eine Vorreiterrolle spielen zu müssen oder immer wieder auf die Dinge hinweisen zu müssen, die noch nicht gut sind.

Amy Kalberer:
Das war es für diese Folge unseres Backstage Podcasts. Ein herzliches Dankeschön an Lena und Kristina für ihre wertvollen Einblicke und Tipps rund um das Thema Menschen mit Behinderungen. Ich hoffe, ihr habt genauso viel gelernt wie ich. Wenn ihr mehr über die Arbeit des Büros für Gleichstellung erfahren möchtet oder weitere Informationen zum Thema sucht, besucht die Website des Liechtensteinischen Behindertenverbands, diese lautet www.lbv.li . Ihr könnt euch auch direkt bei Kristina melden, ihre E-Mail-Adresse ist kristina.sprenger@lbv.li. Vergesst nicht, uns auf Instagram unter @aha_liechtenstein zu folgen, um keine weiteren Folgen zu verpassen. Bis zum nächsten Mal!

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Über mich

Ich bin Amy Kalberer und mache derzeit mein Praktikum im aha.